Als der Merkurist 2015 in Mainz gegründet wurde, war die Idee des „Bürgerjournalismus“ ein viel diskutiertes Thema in der Medienbranche. Viele der Online-Medien, die in dieser Zeit ihr Publikum stärker in die Berichterstattung einbeziehen wollen, gibt es heute nicht mehr. Der Merkurist hat bis heute überlebt – wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten.

Gründer Manuel Conrad war kein Journalist, sondern Unternehmensberater und Manager und wollte ein neues Modell für den Lokaljournalismus entwickeln. Statt einer Redaktion, die entscheidet, was für den Leser wichtig ist, können beim Online-Medium Merkurist die Leser mitbestimmten, was sie lesen wollen. So entstanden die „Snips“: Registrierte Leser können auf der Website des Merkurist mit einem kurzen Post Themen vorschlagen und in Form von „Snips“ zur Abstimmung stellen. Andere Nutzer können Fakten, Fotos oder Fragen beisteuern und durch einen Klick ein „O-ha“ abgeben – ein Zeichen dafür, ob ein Thema interessiert. Kommen genug „O-has“ zusammen, wird ein Artikel in Auftrag gegeben. Oft liefern die Leser sogar schon ehrenamtlich Informationen oder Fotos.

Diese Inhalte bietet Merkurist inzwischen auch über eigene Apps und die Sozialen Medien an.

Technologie

Dafür entwickelten Conrad und sein Mitgründer Maik Schwind mit ihrer neu gegründeten Firma Mercurious GmbH (heute: Apicodo GmbH) ein eigenes Content Management System (CMS), das die Partizipation des Publikums ermöglicht. (Vom englischen Wort Mercurious, zu deutsch „gnädig“, „gnadenreich“) leitet sich auch der Name Merkurist ab, der außerdem auf dem römischen Gott Merkur, den Schutzherrn von Kommunikation und Handel, bezieht.) Mit einem „mittleren sechsstelligen Betrag“ von zwei Angle Investoren entstand eine Software, über die Conrad in einem Interview sagte: „Hier kann ich mittlerweile sicher behaupten, dass wir allen großen deutschen Verlagen mehrere Schritte voraus sind. Wir tracken das Leserverhalten sehr dezidiert und können darüber die Qualität von Artikeln, die aktuelle Relevanz und den Erfolg von journalistischen Beiträgen automatisiert bestimmen und prognostizieren.“ 1 Zu den wichtigsten Elementen des Programms gehören Funktionen, die Schwachstellen in Texten auf Basis des Leserverhaltens identifizieren, und ein Tool, das automatisch die beste Kombination von Überschriften und Bildern für einen Text bestimmt.

Die Snips bei Merkurist

Für dieses Konzept von Merkurist zählte das Branchenblatt Medium Conrad und Schwind 2017 zu den Entrepreneure des Jahres. Der deutsche Online-Journalist Konrad Lischka urteilte in seinem Blog, das Produkt sei „slick“ und „eine gute Idee“ 2. Selbst Jeff Jarvis, amerikanischer Prophet des Bürgerjournalismus, befand in einem Facebook-Eintrag das deutsche Medium als „interesting“. Aber es gab auch kritische Stimmen. Die Süddeutsche Zeitung schrieb: „Das alles klingt sehr funktional und serviceorientiert und nach Abschied von journalistischen Idealen, nach dem Ende des Traums vom Theaterkritiker, investigativen Reporter oder New-York-Korrespondenten. Setzen sich Medienunternehmen künftig primär aus IT-Spezialisten und schlecht bezahlten Schreibern zusammen?“ 3

Zeitweise hatte das Unternehmen 45 Mitarbeiter, darunter 14 Journalisten und sieben Entwickler. Die Reichweite in Mainz soll zu dieser Zeit 140.000 Unique User pro Monat gewesen sein und drr Merkurist hatte 32.000 Facebook-Fans. Auf der eigenen Website und in den Sozialen Medien entstand eine lebhafte Community, die die Meldungen des Merkurist las, teilte und kommentierte. Finanziert wurde das Angebot nicht durch Abonnements wie bei der Mainzer Allgemeinen Zeitung, sondern durch gesponserte Beiträgen und Bannerwerbung, viel davon von lokalen Unternehmen.

Dabei war der Mainzer Merkurist, auf den im Juli 2016 eine Ausgabe für Frankfurt/Main und im August 2016 eine Ausgabe für Wiesbaden folgte, eigentlich nur der „proof of concept“, also der Beweis, dass das Konzept eines werbefinanzierten Online-Lokaljournalismus mit Leserbeteiligung funktionierte. Die Gründer sahen Merkurist in erster Linie als Technologie-Unternehmen, das mit seinem Content Management System Geld verdienen sollte. „Wir wollen Journalismus im McDonald‘s-Stil entwickeln,“ sagte Conrad damals der Website Journalismuslab.de – also in allen Städten Deutschlands nach Franchise-Nehmer suchen, die mit der Software der Firma ihre eigene lokale Website starten.

Merkurist international
Der Merkurist International 2024


Dieses Geschäftsmodell ging nicht auf: Am 13. November 2020 veröffentlichte der Merkurist seinen vorerst letzten Artikel: „Merkurist sagt traurig ‘Danke’ und ‘au revoir’.“ Die Franchise-Pläne waren gescheitert, und zusätzlich setzte Corona dem Unternehmen zu: Viele Werbekunden reduzierten ihre Ausgaben, Veranstaltungen fanden nicht statt. Doch das Team gab nicht auf, suchte und fand einen Investor: den Mainzer Unternehmer Matthias Willenbacher, der mit Windrädern und anderen erneuerbaren Energiequellen sein Geld verdient. In einem Interview sagte er über seine Motivation, das finanziell riskante Unternehmen zu wagen: „Als Investor steige ich nur bei Unternehmen ein, von denen ich meine: Sie leisten einen – wenn auch kleinen – Beitrag für eine bessere Welt. Und so ist es auch beim Merkurist. Wir arbeiten daran, die Verluste so klein wie möglich zu halten. Aber vorrangig geht es mir darum, diesem großartigen Projekt eine neue Zukunft zu geben.“ 4 Am 18. Januar 2021 begann der Merkurist wieder damit, Meldungen zu veröffentlichen.

Im Januar 2024 hatte der Merkurist 8.944.880 Page Views und 568.255 Unique Visitors; zu den 32.000 Facebook-Followern sind 17.800 Instagram-Nutzer hinzugekommen; die News werden auch per Email und WhatsApp verbreitet. Nach wie vor gibt es die Leservorschläge per „Snips“, und die Leser interagieren mit den Inhalten von Merkurist auf der Website und in den sozialen Medien. Produziert wird Merkurist von einem zehnköpfigen Team, bei dem sieben Mitarbeiter Journalisten sind. Die Technik wird immer noch von dem Unternehmen von Manuel Conrad gestellt, das inzwischen Apicodo GmbH heißt.

Merkurist Rheinhessen
Der Merkurist Rheinhessen 2024

Veränderungen in der Gestaltung

Die Gestaltung des Merkurist hat sich seit seiner Gründung 2015 nur in Details verändert. Wie zu Beginn ist das Erscheinungsbild durch rechteckige Kacheln für die Meldungen auf der Startseite geprägt, die heute lediglich marginal größer sind als zu Beginn. Die Rubriken sind in der gegenwärtigen Version etwas hervorgehobener, und als neue redaktionelle Kategorie ist seit dem Einstieg von Matthias Willenbacher das Thema „Innovation und Nachhaltigkeit“ hinzugekommen.

Archivierung

Die Artikel, die vor dem 13. November 2020 erschienen sind, sind nicht mehr im Archiv des Merkurist.

Die Archivierung der Merkurist ist wegen seiner Gestaltung und dem zugrunde liegenden Content Managment Systems für Archiv-Crawler nicht möglich. Die Seite ist als Single-Page-Application mit den angularjs und angular Frameworks erstellt. Das bedeutet, dass die Webseiten nicht als fertige HTML-Seiten mit allen Inhalten vom Webserver ausgeliefert, sondern immer dynamisch im Browser generiert werden. Als Konsequenz daraus sind von Merkurist keine Seiten im Internet-Archiv zu finden, da es keine „fertigen“, archivierbaren Webpages gibt, sondern diese ausschließlich bei Zugriff auf die Website zusammengefügt werden.

Der Merkurist Mainz im Juli 2024
Der Merkurist Mainz im Juli 2024



Die Waybackmachine von Archive.org hat die Seite zwar in regelmäßigen Abständen angesteuert, allerdings sind die Snapshots, die dabei entstanden ist, ohne Inhalt. Darum mussten für diesen Eintrag Screenshots verwendet werden, mit denen der Artikel über Merkurist bei journalismuslab.de illustriert war.

1 Lischka, Konrad: Wie ein deutsches Start-up mit Wagniskapital die Marktlücke für lokalen Digitaljournalismus schließen will, konradlischka.info, 2. Januar 2016
https://konradlischka.info/wie-ein-deutsches-start-up-mit-wagniskapital-die-marktluecke-fuer-lokalen-digitaljournalismus-schliessen-will/

2 Lischka 2016

3 Schenz, Viola: Unsere kleine Stadt, Süddeutsche Zeitung, 9. Oktober 2017
https://www.sueddeutsche.de/medien/web-projekt-unsere-kleine-stadt-1.3700617

4 Keinath, Ralf: Matthias Willenbacher: „Wenn es nur ein größeres Medium gibt, muss sich die Politik nicht anstrengen“, Merkurist, 4. April 2021
https://merkurist.de/mainz/merkurist-inhaber-matthias-willenbacher-wenn-es-nur-ein-groesseres-medium-gibt-muss-sich-die-politik-nicht-anstrengen_yRN

Die gestalterischen Unterschiede sind minimal: die Kacheln der einzelnen Artikel sind größer geworden, dafür gibt es weniger Weißraum an den Seiten.

Metadaten

Titel

www.merkurist.de & Merkurist


Autor

Beim Merkurist arbeiten im Mai 2024 zehn festangestellte Mitarbeiter, von denen sechs Redakteure sind; Redaktionsleiter ist Ralf Keinath. Gegründet wurde Merkurist 2015 von den Unternehmern Maik Schwind und Manuel Conrad. Seit Januar 2021 ist Matthias Willenbacher, der unter anderem das Alternative-Energien-Unternehmen juwi gegründet hat, Inhaber von Merkurist.


Jahr

Seit 2015


Technische Voraussetzungen

Standardbrowser


Erscheinungsort

Mainz


Live-Version

Facebook: https://www.facebook.com/merkuristmz
Instagram: https://www.instagram.com/merkurist.mainz/
X/Twitter: https://x.com/MerkuristM
Außerdem hat der Merkurist eine eigene App für Android und iOS


Archivierte-Version


Quellen

Hüfner, Daniel: Merkurist: Deutschlands heißestes Journalismus-Startup, bei dem sogar die Konkurrenz schon abschreibt, t3n.de, 4.Januar 2016
https://t3n.de/news/merkurist-lokaljournalismus-668254/

Keinath, Ralf: Matthias Willenbacher: „Wenn es nur ein größeres Medium gibt, muss sich die Politik nicht anstrengen“, Merkurist, 4. April 2021
https://merkurist.de/mainz/merkurist-inhaber-matthias-willenbacher-wenn-es-nur-ein-groesseres-medium-gibt-muss-sich-die-politik-nicht-anstrengen_yRN

Lischka, Konrad: Wie ein deutsches Start-up mit Wagniskapital die Marktlücke für lokalen Digitaljournalismus schließen will, konradlischka.info, 2. Januar 2016
https://konradlischka.info/wie-ein-deutsches-start-up-mit-wagniskapital-die-marktluecke-fuer-lokalen-digitaljournalismus-schliessen-will/

Schenz, Viola: Unsere kleine Stadt, Süddeutsche Zeitung, 9. Oktober 2017
https://www.sueddeutsche.de/medien/web-projekt-unsere-kleine-stadt-1.3700617

Watzlaweck, Georg: Merkurist: Lokaljournalismus als Prozess, Journalismuslab.de, 28. März 2017
https://www.journalismuslab.de/2017/03/28/merkurist-lokaljournalismus-als-prozess/

Telefoninterview mit Merkurist-Redakteur Ralf Keinath am 29. Mai 2024

Email von Frieder Reinhardt, apicodo GmbH, vom 7. Juni 2024

Live-Version